Zeitzeugenberichte

 

Seit dem historischen Umbruch und der durch den Fall des Kommunismus einsetzenden demokratischen und marktwirtschaftlichen Veränderungen sind inzwischen über 30 Jahre vergangen. Weiterhin wissen wir jedoch als Gesellschaft über diese Ereignisse verhältnismäßig wenig. Aus der Sicht des Historikers ist dies noch ein zu geringer zeitlicher Abstand, um darüber tiefgreifende Forschungen anzustellen. Politologen hingegen würden sagen, dass diese Ereignisse bereits länger zurückliegen und daher bereits eine Domäne der Historiker sein sollten. Bei der Verbreitung des Wissens über diese Zeit erweist sich auch der Lehrstoff des Geschichtsunterrichts an weiterführenden Schulen als wenig hilfreich. Denn die Ereignisse der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts nehmen im Zyklus der historischen Bildung den allerletzten Platz ein. Daher schaffen es zahlreiche Geschichtslehrer nicht mehr, diese Thematik vor Ende der letzten Klasse zu erörtern.

 

Diese (auf unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Phänomenen beruhende) Situation hat zur Folge, dass derzeit eine weitere Generation junger Menschen heranwächst, die allein schon aufgrund ihres Alters keine eigenen biographischen Erfahrungen über diese Umbruchszeit besitzen und darüber nicht einmal Grundkenntnisse aus Schulbüchern erworben haben.

 

Paradoxerweise liegen Erzählungen über die „nahe Vergangenheit” der Jahre 1989-91 für viele fast zum Greifen nahe - dank den Narrationen der Generation 50 plus, den Eltern und Großeltern der unmittelbar vor und nach dem Systemwandel geborenen Menschen.

 

Man sollte diese Gelegenheit unbedingt nutzen und in die Geschichten von Menschen hineinhören, die am eigenen Leibe miterlebt haben, was jener demokratische und marktwirtschaftliche Umbruch bedeutet hat. Ein Umbruch, der wie jede Veränderung sowohl gute als auch schlechte Seiten hatte (die gleichermaßen wichtig und interessant sind).

 

Im Folgenden werden ausgewählte Äußerungen von Zeitzeugen vorgestellt, mit denen wir uns im Rahmen des Projekts „1990 / Year One” näher unterhalten konnten. Wir hoffen, dass diese Reflexionen für die Gespräche der Besucher dieser Ausstellung zur Inspiration werden – sowohl im bereits stattfindenden Austausch im engsten Verwandten- und Bekanntenkreis als auch bei neuen Begegnungen, die noch bevorstehen.

 

 

 

(…) So waren die Menschen und viele haben das Begrüßungsgeld wieder Nachhause genommen, weil sie nicht sichern sein konnten: bleibt es eigentlich mit der Grenzöffnung so bestehen oder wird der Rückwärtsgang eingeschaltet und die Grenze wird wieder dicht gemacht? Das war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht klar. Denn wir waren ja noch nicht wiedervereint. Wir waren auf den Weg dahin, aber es waren noch viele Hindernisse zu überwinden. Bloß die Menschen, die einmal die Freiheit genossen haben, wollten nicht wieder diesen Schritt zurück gehen. Und so war die Losung, verständlich: kommt die D-Markt nicht zu uns, gehen wir zu ihr. Das sagt eigentlich alles über die Einstellung der DDR-Bevölkerung. Man war gespannt und hoffnungsfroh auf das was kommt. Und es ist gut so, dass es so gekommen ist so wie es kam. 

 

W., Als Beamter des Bundesgrenzschutzes an der innerdeutschen Grenze tätig

 

 

 

Mein Vater schrie so laut er konnte: ‚Was ist das nur für ein Land, in dem wir unsere Kinder sogar zur Lüge erziehen müssen?‘ So war es 40 Jahre lang. So sind Diktaturen. Wir mussten zur Lüge erzogen werden. Zum Verrat. Zum Hass. Zur Diktatur. Zum Militarismus.

 

B., Journalisten

 

 

 

Es war auf jeden Fall positiv, dass die Familie wieder zusammen kam. Dass man die Freiheit hat hinzureisen, wo man hin möchte. Für mich als Jugendliche war eigentlich immer so das Thema: Ich will mal in die Alpen wandern. Und ich werde da nie hinkommen, weil ein Staat für mich sagt: da darfst du nicht hin! Das ist ein anderes Freiheitsdenken, was man jetzt hat, dass man jetzt die ganze Welt bereisen kann, wenn man das möchte.

 

S., Krankenschwester

 

 

 

Die Grenze war für uns selbstverständlich geworden. Die Grenze war eine große Akzeptanz, die wir ihr entgegen gebracht haben. Aber nach Grenzöffnung sind mir die Augen aufgegangen. [Zum einen "Fulda Gap": Was hat das bedeutet überhaupt dort zu leben? Die Gefahr des "Fulda Gaps" ist mir klar geworden.} Und natürlich auch, das was uns durch die Wiedervereinigung gegeben wurden ist. Der andere Teil Deutschlands, der jetzt zu uns gehört und der für uns nicht erreichbar gewesen ist. Höchstens mal durch eine Reise, aber dann wieder Nachhause. Aber richtig kennen gelernt habe ich das erst nach der Grenzöffnung. Und da bleibt schon das Gefühl, nicht eingeschlossen, sondern ausgeschlossen gewesen zu sein. Das Leben wäre ganz anders verlaufen, wäre die Grenze nicht dagewesen.

 

M., Aufgewachsen an der innerdeutschen Grenze

 

 

 

Diese Fotos, die auf Bildschirmen durch unsere Häuser geflimmert sind, die habe ich tagtäglich ab Sommer 1989 verfolgt. Das war total emotional. Jetzt gehts auch emotional ab bei mir. Komisch, nach so vielen Jahren. Man hat das verfolgt, man hat das auch sehr kritisch verfolgt. Und in dieser Zeit kamen zu aller erst bei mir so ein Gedanke: Gehen oder Bleiben? Aber man hat sich dann für das Bleiben entschieden und es war Gott sei Dank auch so, dass es nicht mehr lange in diesem System das bleiben war, sondern das hat sich ab November 1989 zum Glück in Wohlgefallen aufgelöst. Wahnsinn.

 

M., Sekretärin